28.5.15, Uraufführung von "A1 – Ein Stück Schweizer Strasse", Zürich ,Schauspielhaus (Pfauen).

A1 – Ein Stück Schweizer Strasse

Die meistbefahrene Autobahn tätowiert die Schweiz von Nordosten nach Südwesten, von St. Margrethen bis Genf. Die A1, früher N1, ist ein Projekt, das Spuren hinterlassen hat – im Land und in der geistigen Landschaft. Als man sie in den Fünfgizerjahren plante, stand sie für den Fortschritt, für den Anschluss an das mobile Europa der Touristen, für den Transit von stets verfügbaren Gütern und für die «gute Form» der Schweizer Ingenieurskunst. Die etwas später Geborenen, die Nachkriegskinder, erinnern sich an die Fahrt in die Familienferien und sehen dabei Bilder auf 8 Millimeter oder in Kodacolor. Helles Orange, verwaschenes Blau, stets viel Sepia und ein voller Kofferraum mit Gummiboot oder Ski auf dem Dach. Die Autobahn erzählt auch von der Schweiz als Land des Wohlstands für alle.

DerendingenJ

Heute fliegen die meisten in die Ferien. Wer im Sommer die A1 abfährt, erhält dafür eine Ahnung vom Ende. Nebel liegt auf der Route, die einst die Zukunft verhieß. Neben dem Autofenster zieht eine zersiedelte Schweiz vorbei, vor der Heckscheibe staut sich der Blechwurm, in der Imbissbude auf dem lauten Rastplatz verstehen wir die Frau kaum, die von ihrem 16-Stundentag erzählt. Der Fortschritt von gestern hat Federn gelassen.

In der Geschichte des Schweizer Autobahnbaus spiegeln sich die Fragen der Gegenwart, die ihre Zukunft nicht mehr benennen mag. Die Prognosen über die Anzahl Fahrzeuge, der so genannte Sättigungsgrad, wird zuverlässig um Jahrzehnte früher erreicht und muss laufend nach oben korrigiert werden. Wohnen will an der Autobahn niemand, der sich ruhigere Lagen leisten kann. Und nur noch Kreuzritter der Gegenwart halten den Klimawandel für ein Märchen, für alle andern ist er in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Schadstoffe, Lärm, Zersiedelung: die Mobilität von Mensch und Gütern fordert einen Preis, den wir vielleicht nicht mehr bezahlen können.

Und doch strahlt die Autobahn eine grosse Normalität aus, eine Vertrautheit in Beton und Asphalt, welche die Schweiz nicht nur trennt, sondern auch verbindet. Müssen wir das alles aufgeben und neu denken? Oder wohin führt uns diese Strasse, die einst für den Fortschritt stand? Bringen wir die enorme Tatkraft und den demokratischen Durchsetzungswillen noch einmal auf, die für den Bau der Autobahnen freigesetzt wurden, um den künftigen Mobilitätskollaps zu vermeiden? Oder fahren wir weiter und vertrauen auf neue Technologien?

Das Film- und Theaterprojekt «A1 – Mike Müller rast auf der Strasse des Fortschritts» steigt in die Archive und sucht in der Geschichte der wichtigsten Schweizer Autobahn nach den Spuren in die Gegenwart. Wir fahren die Strasse ab, von St. Margrethen nach Genf, ohne die Autobahn zu verlassen. Der Schauspieler Mike Müller und der Journalist und Dramaturg Tobi Müller sprechen mit Menschen, die auf oder an der Autobahn arbeiten – vom Grenzbeamten über den polnischen Lastwagenfahrer und den Motelbetreiber bis zur Verkehrspsychologin, von Pendlern bis zu Jugendlichen, welche die Autobahnraststätte als Treff benutzen. Abseits der Strasse kommen auch Leute zu Wort, die die Autobahn schon lange meiden. Weil sie die alte Frage nach der Veränderbarkeit der Welt stellen: Gibt es ein Leben nach der Autobahn?

Premiere: Schauspielhaus Zürich, 28. Mai 2015. Ein Projekt von Mike Müller, Tobi Müller und Rafael Sanchez. Mit Mike Müller, Michael Neuenschwander, Markus Scheumann. Regie: Rafael Sanchez, Dramaturgie: Tobi Müller, Video: Christoph Menzi.

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