Der mit der Musik tanzt
Sein Hauptberuf, schon lange: Professor für Zeitgenössische Kunst – unter anderem in Kalifornien, Stuttgart, seit 2006 in Wien. Doch für die meisten ist Diedrich Diederichsen Deutschlands berühmtester Pop-Theoretiker, auf Lebenszeit. Und für die Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift ist er auch Analytiker sperriger Allianzen, etwa von Schlingensief und Wagner. Doch selbst für Spezialisten bleibt der Sohn eines Hamburger Theaterwissenschafters wohl: der mit der Musik tanzt.
In Deutschland, dem weltweit drittgrößten Popmarkt, gibt es Akademien aus dem Geiste der Bologna-Reform, die das musikalische Handwerk und auch das «berufsbefähigende» Marketing lehren. Doch eine Wissenschaft des Phänomens selbst gibt es nur vereinzelt. Zum Beispiel bei Peter Wicke in Berlin oder bei Christoph Jacke in Paderborn. Das neue und dicke Buch von Diedrich Diederichsen ist auf diesem Hintergrund zu verstehen: Als deutsche Pionierleistung, rund 60 Jahre nach dem globalen Durchmarsch der Musik, um die es geht.
Das Buch heißt «Über Pop-Musik» und man braucht eine Weile, um zu merken, dass der Titel genauso gemeint ist. Denn «Über» steht nicht für Meta-Pop-Musik, auch nicht für Pop 2, wie Diederichsen einst den Wandel von einem emanzipatorischen zu einem postmodernen Projekt nannte. Nein, «Über Pop-Musik» will seinen Gegenstand überhaupt erst bestimmen. Wie man das macht, wenn man ein akademisches Fachgebiet aus der Taufe hebt. Ecce Pop-Musik! Es beginnt mit der Schreibweise, mit dem zwingenden Bindestrich. Pop-Musik ist ein zusammengesetztes Feld, zeig die Orthographie an. Pop-Musik besteht aus disparaten Praktiken. Musik interessiert Diederichsen dabei am wenigsten, zumindest wenn es sich um Musik-Musik handelt, wie er Musik nennt, die die gelungene Reproduktion eines notierten Originals anstrebt. In der Pop-Musik spielt die Partitur so gut wie keine Rolle. Es geht vielmehr um Sounds, Geräusche. Um die Aufzeichnung, um den Auftritt, um die Bilder. Um Gesten, Kleider, Haare.
Das kommt uns bekannt vor. Geht es etwa doch um Theater? Nein: Theater ist durch die Einheit des Raumes gekennzeichnet, die diese Praktiken zusammenführt. In der Pop-Musik sind völlig verschiedene Räume am Prozess beteiligt, den Diederichsen zentral für die Pop-Musik-Werdung sieht. Das Kinderzimmer, das Radio, die Aufnahme, der Klub, das Konzert, die Straße. Immer ist da ein Rezipient, eine Hörerin, ein Fan. Und die setzen zusammen, was nicht zwingend zusammen gehört. Diese zentrale Leistung ist Pop-Musik. Und das garantiert, so Diederichsen, dass selbst unter verschärften kulturindustriellen Bedingungen, denen Pop-Musik von Anfang an ausgesetzt war, sich Unvorhergesehenes ereignen kann.
Mit diesem Schwenk auf die Rezeptionsästhetik sucht Diederichsen sein Fach nicht etwa durch die Nähe zu anderen Künsten zu adeln. Im Gegenteil, er sucht die Abgrenzung. Mit der Semiotik, mit der Zeichentypologie von Charles Sanders Peirce erklärt er die Besonderheit von Pop-Musik. Das indexikalische Zeichen entspricht den Geräuschen und Sounds, welche die Aufzeichnung von Pop-Musik stärker bestimmen als die Musik selbst – der Index ist der Verweis auf den Verursacher, auf seinen Leib, seine Stimme, auf die Technik, die das alles hervorbringt. So erklärt sich zum Beispiel der Siegeszug der schwachen Stimmen, der Näselnden, der Schreihälse oder aller anderen, die «gar nicht singen können.» Das ikonische Zeichen dagegen findet sich in den Bildern, auf die Pop-Musik immer schon angewiesen war, aber auch zum Beispiel in einem Übergang einer ehemals überraschenden Stimme wie jener Rod Stewarts hin zu einer «Rodstewarthaftigkeit», wenn also das Korn der Stimme zu einem Bild gerinnt. Die dritte Peircesche Kategorie schließlich, das Symbol, findet man in Vereinbarungen wie jener, dass gewisse Beats kollektive Körperlichkeiten darstellen sollen.
Die meisten Künste, schreibt Diederichsen, würden nur jeweils eine Zeichenkategorie brauchen. Außer die eh schon zusammengesetzten wie Kino und Theater, die den Zeichensalat aber in einem gemeinsamen Raum anrühren. Dass das Theater dennoch eine dialektische Rolle spielt in Diederichsens Theoriebuch, merkt man in seinen Ausführungen zu den Effekten der Performance und der Pose. Immer wieder beschreibt er die Auswirkungen der Spielregel, dass in seinem Fach nie klar werden dürfe, ob der «Pop-Musiker für sich spricht oder in einer Rolle», dies in Abgrenzung etwa zur «konventionellen Rollen-Darsteller-Binarität des Theaters.» Vielleicht ist an dieser Stelle auch nur sein Bild des Theaters konventionell, oder aus rhetorischen Gründen historisch.
Wer durch solche Theoriekurse, die so wild auch wieder nicht sind, hindurchkommt, kann das hibbelige Denken genießen, das an vielen Beispielen klarmachen kann, wie diese semiotische Unruhe den Gegenstand aufregend hält. Manche Kritiker sind überrascht, dass Diederichsen das Buch in eine biografische Klammer fasst, in der Art von: Pop-Musik ist etwa so alt wie ich, deshalb erzähle ich aus meiner Warte, Kinderzimmer, erste Konzerterfahrungen und späterer Ennui eingeschlossen. Doch dieses Oszillieren zwischen unverschämtem Subjektivismus und hemmungsloser Abstraktion hat sein Schreiben seit jeher bestimmt. Überraschender ist, dass Diederichsen dort den besten Überblick behält, wo seine Distanz wächst: Die Passagen über die Pop-Musik seiner Kindheit und Jugend sprühen und springen elegant von der Anschauung zur Theorie und zurück, und dieser Eindruck ensteht auch gegen Ende wieder, wenn dann doch auch Entfremdung zur Gegenwart erkennbar wird. Ausgerechnet die Achtzigerjahre und Teile der Neunzigerjahre aber, in denen Diederichsen Deutschland berühmtester Pop-Theoretiker wurde, wirken im Buch mitunter wie ein Re-Enactment, auch wenn man den Witz und die Ironie immer findet bei diesem Autor. Warum ein solches Buch aber nicht aus der Mitte eines Pop-Musik-Instituts, sondern von einem Kunsprofessor nebenbei und während fast zehn Jahren geschrieben werden musste, ist die Überraschung, die nichts über den Autor sagt. Aber viel über die deutsche Universität.
Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014)
Erschienen in: «Theater Heute», Juni 2014, Seite 63