Elternabend – Mike Müller migriert in die Schule
Das ist keine Tragödie
Ereignisse werden oft im gleichen Zustand erinnert, wie man sie beim letzten Mal archiviert hat. Das gilt auch für Debatten. Ein aktuelles Beispiel ist die geisterhafte Rückkehr der Rede über Integration. Seit rund zehn Jahren erlebt der Begriff eine Renaissance. Weiss noch jemand, dass diese Vokabel bereits in den Siebzigerjahren Konjunktur hatte, bevor sie wieder verschwand? Wir holen einen Begriff aus dem Archiv, und noch beim Rausgehen vergessen wir, warum wir ihn gesucht und wo wir ihn gefunden haben. Die mit «Integration von Ausländern» verbundenen Ängste der Siebzigerjahre ähneln denn auch stark jenen von heute. Man fürchtete damals die Bildung von städtischen Gettos, heute warnt man vor Parallelgesellschaften. Sicher ist es wichtig, darüber zu reden, wie man kulturelle und soziale Vielheit organisiert. Wo gibt es Verhandlungsspielraum, wo nicht? Dafür gibt es Gesetze, Debatten und mitunter zweifelhafte Volksabstimmungen, das ist der Lauf einer Demokratie. Dieser Weg ist zäh und mühsam und mitunter peinlich. Aber: Er ist gangbar.
Im Begriff der Integration steckt jedoch das Scheitern schon mit drin. Es ist die Frage nach der Leitkultur, an die man sich anzupassen hat. Doch was ist das? Wohin oder in welcher Funktion sollen die Ausländer der ersten und der zweiten Generation integriert werden? In die Landfrauenküche? An das Schwingfest? Als Nick Hartmanns Hund? Die aktuelle Häufigkeit solcher folkloristischer Erscheinungen ist ja gerade der Beweis, dass die nationale Identität auf der Intensivstation liegt und nach starkem Stoff schreit. Die Leitkultur ist ein Phantom, zumindest wird sie inhaltlich kaum diskutiert. Allerdings ist die Schweiz auch hier alles andere als ein Sonderfall. Der deutsche Migrationsforscher Mark Terkessidis schreibt in seinem Buch «Interkultur»: «Die verbreitete Vorstellung von Integration führt real keineswegs zu einer „Angleichung“, sondern zu einer Perpetuierung (etwa: „Zementierung“) der rechtlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede. Mit böser Zunge könnte man sogar behaupten, dass dies das eigentliche Ziel darstellt. Denn dieser Unterschied, das Bild von „dem Ausländer“ bzw. „dem Türken“, wird benötigt, um die erwähnte geringe Definitionstiefe des „Deutschseins“ auszugleichen.»
Das lässt sich leicht auf die Schweiz übertragen. Je unklarer das Selbstbild, desto klarer die Forderungen an die Nicht-Schweizer, sich jetzt endlich mal zu integrieren. Diese Forderung ist verkehrt im Sinne von unmöglich. Es scheint, als sei Integration eine Vorstellung, die verliebt in ihr Scheitern ist. Und vom Scheitern versteht das Theater einiges, zumindest in der Gattung der Tragödie. Der Wiener Philosoph Robert Pfaller führt in seinem aktuellen Buch «Wofür es sich zu leben lohnt» viele Unterschiede von Tragödie und Komödie aus. Die Tragödie, die das Scheitern des Einzelnen zum Inhalt hat, steht der Komödie gegenüber, die letztlich immer von einem Gelingen ausgeht. In der Tragödie steht der Held im Zentrum, in der Komödie aber nur das Bild, das wir uns von einer Figur machen. In der Tragödie erzählt man sich Geschichten über sich selbst, in der Komödie werden diese Geschichten vorgeführt. Kurz: Die Tragödie ist subjektiv, die Komödie objektiv.
Diese Gattungsunterschiede haben politische Folgen, so Pfaller: «Der Idealismus – und mit ihm die Tragödie – hält die Individuen also für Subjekte, wirft ihnen vor, dass sie selbst es nicht täten, und operiert folglich mit dem Begriff der Schuld. Die Komödie hingegen legt, hellsichtiger, den Blick auf die determinierende – sei es soziale, sei es unbewusst-psychische – Mechanik dort frei, wo die Figuren sich für selbstbestimmt halten. Sie erweist die vermeintlichen Subjekte als blosse Individuen.» Der Diskurs der Integration scheint in unserer Gesellschaft stark von der Gattung der Tragödie infiziert: Das migrantische Subjekt trägt selbst die Schuld für seine gescheiterte Integration, auch wenn niemand richtig sagen kann, was Integration überhaupt bedeutet. Die Komödie geht derweil von einem Individuum aus, von einem konkreten Fall, und schaut, welche Fragen, Wünsche und auch welche Täuschungen im Spiel sind. Die Komödie kümmert sich um Tatsachen, die Tragödie um Meinungen.
Mike Müller, Rafael Sanchez und ich haben kein Stück geschrieben (mehr dazu siehe unter «Thema und Arbeitsweise» auf der Vorderseite). Es handelt sich also weder um eine klassische Tragödie noch um eine Komödie. Wir erzählen Ihnen keine Geschichten. Doch das Denken der Komödie liegt uns bei diesem Thema aus mehreren Gründen nahe. Erstens aus den bereits genannten, weil die Komödie nicht das Scheitern anbetet und dafür den Einzelnen verantwortlich macht, sondern das Gelingen und den gangbaren Weg im Blick behält. Deshalb wollen wir weder eine getreue Abbildung der Recherche auf die Bühne bringen noch einen traurigen Bilderbogen zum Thema Problemschule tanzen. Zweitens: Die Recherchen vor Ort zeigen nun mal kein klares Bild des Scheiterns, da kann man reden, mit wem man will. Und drittens: Einige Interviews waren halt immer wieder sehr lustig. Es kann natürlich auch sein, dass, jenseits von subventionslinken Herleitungen wie dieser, die komödiantische Haltung meinem Bruder etwas entgegen kommt. Dann vergessen Sie bitte den Rest. Und nehmen Sie es nicht allzu tragisch (viel Spass!).
Thema und Arbeitsweise
Mike Müller und sein Bruder Tobi Müller wurden auch mal etwas laut am Telefon, als sie vor etwa einem Jahr über das Thema Integration sprachen. Ansichten wurden in den Raum geworfen, Länder verglichen, die Welt erklärt. Munition war die Schweizerische Mediendatenbank, das Archiv des hiesigen Pressewesens. In einer kühleren Minute wunderten wir uns: Warum geht es bei diesem Dauerthema so viel um Meinungen, und so wenig um Stimmen, Originaltöne, Reportagen? Wir hatten ein Theaterprojekt im Sinn, nicht eine gespielte Zeitung. Und doch wussten wir bald, dass man über Integration am besten konkret spricht und den Meinungsbrei anderen überlässt.
Konkret heisst in unserem Fall auch lokal. Wir wollten rund um das Schulhaus Aemtler im Zürcher Kreis 3 nachfragen, wie der interkulturelle Alltag denn so aussieht. In die Schule, weil dort der Zukunft die Temperatur gemessen wird. In das «Aemtler», weil dieses migrantisch geprägte Schulhaus einen zweifelhaften Ruf, aber auch viel Aufmerksamkeit hat und somit im Fokus von verschiedenen Massnahmen steht. In den Kreis 3, weil er weder Getto noch Villengegend ist.
«Elternabend» basiert auf rund 30 Interviews, die Mike Müller zwischen Januar und April 2011 geführt hat. Mit Schülern, Lehrern, Eltern, mit dem Hauswart, mit Politikern, mit einem Jugendanwalt und einem Polizisten. Und auch mit zwei Aemtler-Schülern im Ruhestand. Was wir nach ein bisschen Lektüre ahnten, wurde nach den ersten Interviews zur Gewissheit: Begriffe wie Integration oder Nationalität haben vor Ort wenig Bedeutung (s. auch Text auf der anderen Seite). Interkultur trifft die Sache besser. Auch waren wir erstaunt, wie offen, komplex und gelassen die Menschen unterschiedlichster Herkunft und politischer Einstellung über ihre Erfahrungen sprechen. Wir hatten nicht das Gefühl, dass man für uns eine Kulissenstadt errichtet hat: Probleme wurden nicht verschwiegen, Lösungswege aber auch nicht.
Regisseur Rafael Sanchez, Ko-Direktor des Theater Neumarkt, und die Gebrüder Müller haben diese Gespräche zu einem Monolog geformt. Jede Zeile wurde irgendwann von irgendwem gesprochen, aber oft anders. Wir haben gekürzt, auch anonymisiert. Wir haben Gesprächspartner, die eine ähnliche Funktion haben, in einer einzelnen Figur verdichtet. Wir glauben nicht, dass Wahrhaftigkeit in der getreuen Wiedergabe der Wirklichkeit liegt. Wir glauben an die Kunst – manchmal an das Zerrbild und manchmal an die Komik. Und doch zeigen wir immer wieder im Video oder im Spiel, dass am Anfang die Gesprächssituation steht. Man soll das Lächeln der Schülerin sehen, die bei einem Missverständis ein bisschen über Mike lacht. Und den Schüler, dem es in seiner Heimat zu viele von seiner Sorte hat.
Premiere: Theater Neumarkt, Zürich, 9. Mai 2011, Tobi Müller, Mike Müller (Spiel), Rafael Sanchez (Regie)