Hinter der Hyperaktivität versteckt sich die Todesangst – Projektabend von Falk Richter und Nir de Volff
Alle sind krass beschäftigt, «super busy», und zutiefst erschöpft: Das ist Falk Richters Diagnose, die er in einer Mischung aus Schauspiel und Tanz auf die Schaubühne bringt. Er beschreibt eine gesellschaftliche Hysterie, hinter der in Wirklichkeit jedoch etwas ganz anderes steht.
Oh Gott, ist der müde. Tilman Strauß fällt rücklings vom Sofa auf die Bühne, während er mit Regine Zimmermann telefoniert. Eigentlich wollte er nur anrufen, um zu sagen, wie «super busy» er schon wieder ist. Küssen im Park vor zwei Wochen war auch super schön. Aber deswegen gleich sehen? Es sind alle krass beschäftigt in «Never Forever», dem Projektabend von Falk Richter und dem Choreografen Nir de Volff. Die meisten mit sich selber. Doch die Grenzen zwischen Ich und Du verschwimmen, auch im Gegenüber erkennt der müde Narziss nur die eigene Beschäftigung und sucht deren Wert. Soweit der Berliner Realismus, wie man ihn in der Schaubühne mit Humor und Eleganz veredelt. Wer kennt die privaten Gespräche nicht, die von Ermüdung, und damit von Leistung handeln und da schon steckenbleiben?
Dieser Riss zwischen Innerem, Eigenem und Äußerem entspricht der Psychose, also einer Krankheit. Falk Richter erklärt diesen Riss schon viele Jahre lang zur Grundeinstellung des zeitgenössischen Subjekts. Zur zunehmenden Normalität. In Richters früheren Texten waren es Banker und Broker, die sich auf immer anderen Flughäfen, aber in immer gleichen Hotelzimmern mit den immer gleichen Pornos abhandengekommen waren. Dann kam das Breitbandinternet und hat den Selbstverlust demokratisiert. Jetzt kommt sich jeder abhanden, in den Wiederholungen von arbeitsintensiver Selbstinszenierung und freiwilliger Selbstüberwachung.
So sieht das zumindest Falk Richter, und mit ihm auch immer wieder Essayisten, etwa der in Berlin lehrende Byung-Chul Han, der mit seiner «Müdigkeitsgesellschaft» diesem Abend Pate steht: «Never Forever» zeigt die Krisenkörper des Neoliberalismus. Mit vier Schauspielerinnen und Schauspielern, und vier Tänzerinnen und Tänzern von der Compagnie Total Brutal. Schön ist, wie sich die Sparten lässig, manchmal nachlässig verschränken. Die Schauspieler werden stark choreografiert, die Tänzer kriegen viel Text. Das verhindert zuviel Kunstgewerbe.
Das sind große Worte – Krise, Neoliberalismus, Körper. Und groß sind auch die Gesten, Bilder, Effekte, mit denen diese Begriffe in der Schaubühne zur Aufführung kommen. Die Therapeutin zeigt bald die gleichen Symptome wie ihre Patientin, Regine Zimmermann wird jetzt laut und laut wird auch der elektronische Soundtrack von Malte Beckenbach. Der Professor von Kay Bartholomäus Schulze doziert sehr angespannt über die verlorenen Freiheiten im Neoliberalismus, während das Licht neonbrutal auf ihn niederscheint, bevor sich sein Selbst nachts in den digitalen Netzen verfängt, dabei aber mit nacktem Oberkörper vor schicken Scheiben rumturnt. Es dauert nicht lange und jeder ist derangiert.
Außer die alte Schauspielerin, die hat mehr Zeit, erzählt von einer anderen Zeit. Es ist Ilse Ritter, der maßgeschneiderte Fremdkörper an diesem Abend. Neoliberalismus ist vieles, auch ein Begriffsmonster. Hier einfach dies: Ein System, das nicht von außen, sondern von innen regiert. Jeder hält sich selbst fit, freiwillig. Jeder schafft sich selbst multiple Persönlichkeiten und Profile. In dieser Vielheit schlummert das Glücksversprechen, geschützter zu sein vor den Zumutungen von Liebe und Arbeit. Doch das verhindert auch Haltung. Wer weiß: Widerstand. Und wer kontrolliert die vielen Persönlichkeiten noch, jenseits ihres Konsumwertes?
Um das nicht schon wieder an Namen wie Facebook oder Youtube zu binden, tut Ilse Ritter Not. Ritters Rolle erinnert in diesem Gegenwartsinferno daran, dass das Subjekt schon vor der Digitalisierung mitunter ausweichen wollte. Vor dem Traualtar etwa, vor fast jeder Bindung (wenn Frau Ritter nicht viel von sich erzählt – und sie erzählt noch viel mehr, –, dann spielt sie es sehr, sehr gut, was ihr zuzutrauen wäre, sie ist ja Schauspielerin). Auch die Schauspielkunst spielt in einem virtuellem Raum, ist Teil eines soziales Mediums, im Theater werden analoge Profile entworfen. Und wieder verworfen. Vielleicht nicht gleich zehnmal pro Nacht, wie es Richters Figuren mögen.
Ilse Ritter sorgt auch für den Gang in den Wald. Trockeneis, Nacht, Bäume, und Gretchens Monolog aus Goethes «Faust»:
«Meine Ruh‘ ist hin, mein Herz ist schwer. Ich finde sie nimmer und nimmermehr.»
Ein 70-jähriges Gretchen. Der tief romantische Blick von Richter in die Nacht des Digitalen und der neoliberalen Regierungstechniken dringt damit zum eigentlichen Thema vor, der verdrängten Todesangst, die hinter der Hyperaktivität steckt. Damit relativiert der Abend hoffentlich auch sein behauptetes Gewicht.
Wald, Tod, Romantik: Die Ermüdungsdiagnose hat selbst etwas Raunendes und bleibt im Dunkeln der Begriffe. Richter baut in seinen Textkrisenstrom, dessen Hysterie dem Thema durchaus nahe kommt, ein paar theatrale Inseln. Einfache Situationen. Mutter-Tochter, Mann-Frau, so was. Doch die Konkretion ist halbherzig. Nichts steht der Klage im Weg, die These bleibt rein. Müsste Widerstand nicht auch im Ästhetischen beginnen? Sicher ist derweil: Die Realität spricht für Richter, wenn die Premiere am selben Abend über die Bühne ging, als ein berühmter Gerätehersteller in Kalifornien eine neue Uhr vorgestellt hat, die den eigenen Fitnessstand überprüft und mit anderen teilt.
Die Uhr heißt Apple Watch. Und Watch heißt Uhr. Aber auch: Wache.
Erschienen auf: Deutschlandradio Kultur, 9. September 2014