Auf der Suche nach neuen Stammbäumen – Wo jede Bewegung ihren eigenständigen Wert hat
Spätmittelalterliches Theater hat in Japan bis heute überlebt. In vielen Projekten werden nun die Traditionen mit dem Rest der Welt verbunden. Eine Spurensuche in Tokio.
Kein gebelltes «Zurückbleim, bitte», sondern ein helles «Danke, dass sie die Metro in Tokio benutzen». Auch um Mitternacht ist die U-Bahn noch voll und sicher. Wer aus dem Berliner November in der japanischen Hauptstadt landet, fühlt sich wie in einem Science-Fiction-Film. Alles funktioniert, sogar die Bahn, und morgens um halb sieben scheint die Sonne.
In der japanischen Popkultur gibt es viele Geschichten von Maschinen, Monstern, und Menschen, die irgendwas dazwischen sind. Auch im Theater und im Tanz. Und wenn man als Europäer denkt, man sei ein Trampel inmitten der geschmeidigen Körper, aber man habe doch in den Darstellenden Künsten etwas zu bestellen, so wird man in Tokio bescheiden.
Im Museum of Contemporary Art heißt eine Ausstellung «Seeking New Genealogies» – Neue Stammbäume suchen. Sie zeichnet Traditionslinien, die alte japanische Theaterformen mit zeitgenössischer Performance in Beziehung setzen. Nicht Europa ist der Stichwortgeber, sondern umgekehrt: Japan wird zum Geburtshelfer für die westliche Avantgarde. Was das Noh-Theater mit Performances japanischer Gruppen wie Chelfitsch oder Dumb Type verbinde, deren Musik wir im Hintergrund hören, das habe ich die Kuratorin Yuko Hasegawa gefragt:
«Im Grunde geht es um eine Idee von Minimalismus. In beiden Fällen, in der Tradition wie heute, wird Minimalismus sehr differenziert eingesetzt. Alte Formen wie das Noh-Theater teilen Merkmale des Minimalismus mit modernen Gruppen wie Dumb Type, aber wir konfrontieren diese Werke nicht deshalb in der Ausstellung, weil wir eine direkte ästhetische Ähnlichkeit behaupten wollen. Vielmehr geht es darum, dass sie ähnliche Methoden benutzen, um zu ihrem Kern vorzustoßen.»
Als Berater für diese Ausstellung hat die Kuratorin einen Noh-Meister hinzugezogen, Nomura Mansai, wie Frau Hasegawa vom Museum stolz erklärt.
«Noh und auch Kyogen, das sind die komischen Zwischenspiele, gibt es seit über 600 Jahren», betont die Kuratorin. Und es ist wirklich erstaunlich, wie sehr der Minimalismus Japans den Blick auf westlichen Tanz und europäische Performance lenkt. Man schaut Noh-Videos und findet eine verwandte Ruhe im Tanz von Noa Eshkol, wie ihn Sharon Lockhart filmt. Man geht durch einen schlangenartigen Tunnel von Ernesto Neto aus durchsichtigem Nylon und kann sich nicht entscheiden, ob das nun streng oder sanft wirken soll, wie eine Geste im japanischen Puppentheater, dem Bunraku.
Und man sitzt am Schluss wieder vor der 20 Meter breiten fiependen Videowand von Dumb Type, auf der irrsinnige Zahlenmassen zu alten Schiffahrtskarten morphen – Zahlen als Schriftzeichen, als grafisches Material.
Am Abend, im Nationaltheater neben dem Kaiserpalast, werden die Linien zwischen Westmoderne und japanischer Tradition noch einmal klarer. Wir schauen Kabuki, eine hochstilisierte Gattung, die historisch auf das Noh-Theater folgte.
Wie die Gesten und die Sprache betont und zerdehnt werden, getrennt von der Geschichte: Das erinnert an den französischen Philosophen Roland Barthes, der 1970 in seinem Bestseller «Im Reich der Zeichen» von ähnlichen Dingen schwärmte. Jede Bewegung hat als eigenständige Geste ihren Wert, und muss nicht bloß Text verdeutlichen. Und die Männer, die hier Frauen spielen, stellen nicht einfach Frauen dar, sondern verkörpern sie.
Die Pausen, die Posen, die berühmten Kabukischauspieler, die den Namen ihrer «Häuser» tragen, und der Hanamichi, der Laufsteg, der von der Bühne über die Zuschauer weg nach hinten rausgeht: Das alles erinnert verblüffend an die Subkultur des Vogueing, wenn schwule Männer in New York in Frauenkleidern Bälle feiern – auch dieser Männer stellen keine Frauen dar, sonder sind «real», wie sie sagen. Das ist zwar nicht Roland Barthes aufgefallen. Aber immerhin Madonna, die mit «Vogue» vor über 20 Jahren einen Hit hatte. Bestimmt auch in Japan.
Deutschlandradio Kultur, 29. November 2014