Das Theater sitzt im Nischenknast
Immer mehr Veranstaltungen, immer weniger Zuschauer pro Vorstellung: Das Theater ist auf dem Weg in die Balkanisierung. Verfall oder Fortschritt?
Als in den Achtzigerjahren die letzten innerstädtischen Fabriken schlossen, brach das Zeitalter der Kultur an. In Zürich-West, Bochum oder Manchester besetzte sie die alten Backsteingebäude und holte eine neue Klientel in diese Stadtteile. Man wandelte durch die renovierten Ruinen und dachte: Ha, gestern noch hausten das 19. Jahrhundert und sein nackter Kapitalismus in diesen Hallen, heute zieht der Geist ein. Die Reflexion, die Ruhe, die Verfeinerung, der Fortschritt.
Doch wer heute in diese Häuser schaut, sieht niemanden vor dem Bücherregal sitzen und über zeitlose Themen nachdenken, schon gar nicht bei Wein und Tabak. Es geht im Theater zu wie einst in der Fabrik – es gibt keine ruhige Minute, man sieht Augenringe und fahle Gesichter. Früher hiess es: «Her mit dem Arbeitsrapport». Heute huscht man an der Tür vorbei und sagt: «Du denkst an das Konzept für die neue Reihe, ja? » Die Unterernährung in den Dramaturgien halten manche für ein Modediktat. Doch für das Mittagessen bleibe tatsächlich meistens keine Zeit, sagt die Chefdramaturgin eines der grössten deutschen Häuser.
Das Theater tendiert zum Knast für Produktionsleiter, zur Fabrik von Themenprodukten und vielen kleinen Formaten. Und wer macht jetzt diese Late Night zur Ukraine-Krise, wer bucht den DJ? Und kommt der Soziologe zur vereinbarten Gage oder fliegen wir seinen deutschen Kollegen ein?
Es gibt heute nicht mehr grosse Schauspielpremieren als früher, da bleibt die Statistik mehr oder weniger konstant. Aber mit 225 Besuchern pro Veranstaltung im Vergleich zu 464 Mitte der Siebzigerjahre ist der Trend klar markiert: Die einzelnen Veranstaltungen werden immer kleiner. Und es gibt stets mehr davon. Die deutschsprachigen Theaterhäuser bieten doppelt so viele Abende an wie noch 1990, und dazu benötigen sie im Durchschnitt auch doppelt so viele Spielstätten. Hier noch ein Studio, da ein Keller, dort ein Foyer.
Das Rahmenprogramm aus Lesungen, Gesprächsrunden, bis zu Kochshows, Werkstattinszenierungen und kleinen Themenkongressen braucht viel Arbeitskraft. Denn es sind in der Regel einmalige Veranstaltungen, man muss jeden Abend von vorne erfinden und bewerben. Was wie ein wirtschaftlicher Nachteil aussieht, nützt anderswo entscheidend: Kleine Veranstaltungen sind schneller voll, auch weil man das Publikum in der Nische besser mobilisieren kann. Das drückt die prozentuale Auslastung eines Hauses nach oben.
Stärker noch als die absolute Zuschauerzahl ist es die Auslastung, die über die Verlängerung einer Direktion entscheidet. Kulturpolitik war noch nie primär an ästhetischen Resultaten interessiert, die Kunst bleibt Beiwerk. Das ist nicht schlimm, da ein Aufsichtsgremium künstlerisch auch nicht eingreifen sollte, ausser wenn eine Intendanz neu bestellt werden muss. Aber das kleinteilige Programm zugunsten einer hohen Auslastung ist zu einem Fetisch geworden, der dringende Fragen verdeckt. Nämlich: Für wen will man Stadttheater machen?
Das Bild von der langsamen Kunst Theater, die säkularisierte Kirchen baut und Orte der Einkehr schafft, wie Nietzsche träumte und der Betrieb bis heute fantasiert, dieses Bild ist bei Tage nicht mehr zu retten. Die Entwicklung weg von der heiligen Kunsthandschrift, hin zum Gemischtwarenladen, dauert schon einige Jahrzehnte an. Ist das ein Verfall, verlieren wir damit Entscheidendes? Oder kann man das auch als Fortschritt sehen? Und wenn ja, welche Kunst hätte dieser Gewinn zur Folge?
Die Kunst sieht man bereits. Im Guten wie im weniger Guten. Matthias Hartmann, der in Wien entlassene und zuvor in Zürich tätige Theaterleiter und Regisseur, wurde von der Fachpresse auch belächelt für seinen ästhetischen Schlingerkurs. Sein Spielplan schöpfte einfach die Teuersten ab, seine Handschrift veränderte sich jeweils rasch, bis nichts mehr übrig war ausser einer Vielzahl von Künstlerposen. Man wusste auch, dass Hartmann Regisseure unter Vertrag nahm, die er künstlerisch zwar nicht leiden konnte, aber die Hütte füllten.
Hartmann ist nur der Zerrspiegel einer Entwicklung, die den ganzen Betrieb erfasst hat: Das Theater lebt nicht mehr von einem fokussierten Programm, das es zentral zu diskutieren gilt, sondern von einem möglichst diffusen Programm, damit möglichst viele viel Verschiedenes zu diskutieren haben. Hartmann hat diese Wahrheit unausgeprochen vorgelebt. Und dafür hat ihn der Betrieb gehasst, gerade weil er Hartmann längst ähnlich geworden war. Wie chargenhaft Hartmann, je nach Bedarf, den smarten Wirtschafter oder den sensiblen Künstler gab, wurde erst spät bemerkt. Das ändert nichts an Hartmanns Gespür für die Zeit, die die künstlerische Grosstat für ein eng definiertes Publikum abschafft.
Was in den Dramaturgien im Dauerstress wenig Chance hat, ist die ausladend vorbereitete Schauspielproduktion, die mehr kostet als alles andere. Niemand hat Zeit, sich als Team Monate lang zurückzuziehen, zu lesen und Seminare abzuhalten. Das war das Modell der alten Schaubühne in Berlin, so haben Regisseure wie Peter Stein oder Klaus Michael Grüber zuweilen gearbeitet. Der Schweizer Stefan Bachmann probierte das 2003 noch einmal, als er zum Abschluss seiner Basler Schauspieldirektion ein halbes Jahr in Paul Claudels „Der Seidene Schuh“ investierte. Der Effort soll das Haus beinahe lahmgelegt haben.
Was sicher ins Stocken kommt mit solchen Unternehmungen aber, ist die Öffnung der Theaterhäuser auch für andere Zuschauer als jene, die zum Beispiel Kleist für den modernsten Autor halten. Mit der Zunahme von Zuschauern mit Migrationshintergrund allein ist diese Veränderung nicht mehr ausreichend beschrieben. Die Städte sehen auch sonst anders aus als vor zwanzig, dreissig Jahren. Sie sind internationaler, ja. Aber auch die Digitalisierung hat eingeschlagen, die den Kanon zersetzt und eine Fülle von neuen Interessen, Texten, Musiken und auch künstlerischen Mitteln ins Blickfeld rückt.
Man kann mit gutem Recht anmahnen, dass vielen Theaterabenden die Zeit zum Nachdenken fehlt. Vieles wirkt kalkuliert, überstürzt oder beides. Aber man sollte auch sehen, dass öffentliche Häuser einen Auftrag haben, ihr Publikum zu finden. Und einige Künstler, die vor zehn Jahren noch in der Nische ihr Spezialistenpublikum bespielt haben, arbeiten heute in der Mitte. Es sind Leute wie der Schweizer Milo Rau oder das Regiekollektiv Rimini Protokoll, die ihre Kunst niemals in teuren Schauspielproduktionen hätten entwickeln können. Ihr Neuer Realismus misstraut dem Kanon wie auch der zeitgenössischen Dramatik, ihre Arbeiten touren auf der ganzen Welt und, die Direktoren freut es, füllen kleine wie grosse Säle. Die Explosion an Kleinproduktionen ist auch nur eine Schnitzeljagd: Auf der Suche nach einem diversen Publikum, aber auch nach neuen Kassenschlagern.
Erschienen in: NZZ am Sonntag, 18. Mai 2014